Willkommen im Königreich Jerusalem

ndere Menschen aus vergangenen Zeiten. Wie mag es ihnen ergangen sein? Vielleicht hatten diese Menschen ein schwierigeres Leben als du - oder auch nicht? Bestimmt hast auch du dir diese Frage schon einmal gestellt. Es gibt unzählige Leben mit ihren Facetten und nur ein Teil davon fand im Mittelalter statt. Das dunkle Mittelalter, welches möglicherweise gar nicht so dunkel war, wie du vielleicht meinen könntest.

Es ist unbestritten, dass wir besonders in den letzten Jahrhunderten große Fortschritte in der Wissenschaft, der Medizin und auch in der Gesellschaft erleben durften. Fortschritte, die wir heute als selbstverständlich wahrnehmen, die von den Menschen ihrer Zeit allerdings häufig mit Skepsis betrachtet wurden und manchmal auch Opfer verlangten. Auch das Mittelalter war eine Zeit der Fortschritte und keinesfalls eintausend Jahre Dunkelheit, wie es so gerne daher gesagt wird. Hexenverfolgungen waren eher die Ausnahme und wurden von der Kirche des 12. Jahrhunderts abgelehnt; sie traten erst im ausgehenden Mittelalter gehäuft auf. Dass die Menschen keinen Wert auf Körperhygiene legten, ist kaum mehr als ein unwahres Gerücht. Es gab schon damals keinen Menschen, der glaubte, die Erde sei eine Scheibe und Frauen, wenn sie auch seltener in einer Rüstung anzutreffen waren, konnten durchaus auch politische Macht innehaben und mussten sich nicht alles gefallen lassen.


Du glaubst uns nicht? Dann lass dich von uns mitnehmen. Folge uns in die Zeit der Kreuzzüge, folge uns in das Jahr 1133. Es ist eine Zeit der Minnesänger, der Geschichten und Mythen. An vielen Höfen wird vorgetragen, wie der tapfere Siegfried einst den Drachen Fáfnir erschlug und um das Herz von Kriemhild warb, nur um am Ende dem Verräter Hagen zu erliegen. Jeder kennt die Sage von Roland, der, von Feinden umzingelt, den Mut fand seinen Herrn, Karl den Großen, vor dem großen Angriff der Sarazenen zu warnen und in sein Horn stieß, dessen Ruf weithin zu hören war. Welches Kind schwärmt nicht von den großen Taten Artus' und seiner Tafelrunde, träumend, ein Teil seines Gefolges zu sein?

Es ist auch eine Zeit der Religion. Eine Zeit in der sich jedermann nach Seelenheil sehnt, in der Europa von dem Gedanken beseelt ist, die sakralen Orte im Heiligen Land wieder für die Christenheit in Besitz zu nehmen. Adlige und Bürger streben, dreißig Jahre nach dem ersten Kreuzzug, weiterhin in den Orient. Nicht nur um Erlösung und ein Leben nach dem Tod zu erlangen, sondern auch um auf ein besseres Leben im Diesseits hinzuarbeiten.

Spürst du schon die wärmenden Sonnenstrahlen des levantinischen Sommers? Steigt dir schon der Duft nach orientalischen Kräutern in die Nase, welche auf den Märkten des Heiligen Landes feilgeboten werden? Dringt bereits das Stimmengewirr der Händler und Einwohner Jerusalems an dein Ohr? Ein buntes Gemisch, bestehend aus der dominierenden arabischen Sprache und den Sprachen der Eroberer, allen voran das Französische, Italienische und Deutsche?


Vor dir liegt das schmale Tor, das zum Hof deines Herrn führt und in der Nacht von zwei schweren, hölzernen Flügeltoren versperrt wird. Anders als in Europa, das bereits einige Jahre hinter dir liegt, besteht hier beinahe alles aus Stein und Holz ist ein seltenes und teures Gut. Du hast dich mittlerweile an den deutlich gehobenen Lebensstandard des Heiligen Landes gewöhnt und vermisst daheim eigentlich nur noch deine Familie, nicht aber das nasskalte Wetter und die einfacheren Verhältnisse. Die Fenster des Anwesens sind, wie viele andere Häuser auch, von Maschrabiyya verziert, hölzerne Gitterfenster, welche neugierige Blicke abhalten und auch Schutz vor der Hitze bieten. An den ärmeren Häusern reicht es bestenfalls für einfache Läden aus Flechtwerk oder Abfallholz, aber in diese Gegenden wagst du dich ohnehin nur selten.

Kräftig klopfst du auf den Hals deines Zelters, einem schlanken Schimmel. Dein Traum ist es, einmal einen Destrier zu reiten, doch das Geld für ein solches Schlachtross kann nicht einmal dein Herr aufbringen, der ein vergleichsweise einfacher Ritter im Dienste eines höheren Herrn ist. Ihr Unterhalt ist teuer, denn sie nehmen große Mengen Hafer zu sich und brauchen eine lange, aufwändige Ausbildung. Träumen ist allerdings auch als Knappe erlaubt. Meistens drehen sich deine Träume ohnehin um die schöne Schwester des Lehnsherrn deines Ritters, eine unerreichbare Frau von großer Schönheit und einem gütigen Herzen. Ihr langes, helles Haar wird in deinen Träumen meistens noch eine Spur leuchtender und ihr Lächeln weiß dein Herz zu erwärmen - auch, wenn sie dich bislang noch nicht einmal angesehen hat. Wenn du eines Tages einmal einen Destrier haben solltest und eine angemessene Partie bist, wird sie längst einem anderen versprochen sein, das ist dir schmerzlich bewusst. Wenn - denn ein solcher Aufstieg ist selten und unwahrscheinlich. Dir bleiben lediglich deine Träume und die Hoffnung, sie wenigstens platonisch mit dem Minnesang zu umwerben, den du in deinen freien Stunden häufig übst.

Dir wird bewusst, dass du schon wieder deinen Träumen verfallen bist, als jemand amüsiert deinen Namen ruft und lächelnd ziehst du dich auf den Rücken deines Schimmels. Das Schwert deines Herrn ist deine unmittelbare Aufgabe, denn dieses ist schartig und bedarf einer dringenden Überarbeitung durch einen der bekanntesten Waffenschmiede der Stadt. Ein hünenhafter Mann mit breiten Muskeln, wildem Haar - und einer Seele wie einem Lämmchen. Wer ihn nicht kennt, dürfte ihn wohl fürchten, aber du warst schon öfter bei ihm und weißt ganz gut, dass seine launische, meist aber freundliche Ehefrau weitaus gefährlicher ist. Wer sich Tag und Nacht in einer Taverne mit Trunkenbolden herumschlagen muss, ist allerdings auch gut damit beraten, wehrhaft zu sein. Zwar treffen sich in der Schänke eher die gut betuchten und angesehenen Handwerksmeister nach getaner Arbeit, um sich über ihren Tag auszutauschen, doch auch lautstarke Trunkenbolde und leichte Mädchen lassen sich immer mal wieder blicken.


Während du dem Verlauf der Straße folgst, gleitet dein Blick zur königlichen Pfalz, in deren unmittelbarer Nähe die Schmiede liegt, die gerade dein Ziel ist. Ein Ort, den du bislang noch niemals betreten hast, doch auch das, so bist du dir sicher, wirst du eines Tages ändern. Vielleicht wird es dir einmal gelingen, dir bei einem Buhurt einen Namen zu machen? Die Königin, Melisende von Jerusalem, ist bekannt dafür, auch weniger hohen Adligen ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Eine polarisierende Frau mit einer großen, eigenen Machtbasis, die sich nicht davor scheut, sich mit den Baronen ihres Reiches anzulegen. Du bewunderst sie durchaus für ihr Rückgrat, wenngleich sie auch nicht allmächtig ist und von Zeit zu Zeit auf die Haute Cour zurückgreifen muss, einem Rat, bestehend aus den mächtigsten Adligen und Staatsmännern des Königreichs. Du kennst allenfalls ihre Namen und einige Geschichten, deren Wahrheitsgehalt du nicht beurteilen kannst.

Dennoch... Wenn eine Frau wie Melisende von Jerusalem über das Heilige Land gebieten kann und hierbei den Rückhalt der Kirche und der meisten Adligen genießt, warum sollte es dir nicht auch gelingen, eine wichtigere Rolle auf dieser Welt einzunehmen? Wenn es einen Ort auf der Welt gibt, an dem Träume in Erfüllung gehen können, dann ist es doch bestimmt dieser Ort. Schließlich ist das Heilige Land doch ein Land der Wunder. Es war dieses Land, in dem der Sohn Gottes geboren und gekreuzigt wurde und am Ende wiederauferstand. Jesus war es, der über das Wasser lief, einen Blinden wieder sehen ließ und Wasser zu Wein machte. Sicherlich würdest du dich niemals mit ihm vergleichen, aber es ist ein wunderbares Land, reich an allem, von dem ein Mensch nur träumen kann.

Mit einem Mal vernimmst du einen lauten Hilferuf und, ganz der Ritter, der du eines baldigen Tages sein willst, musst du dir nun die Frage stellen, was du nun tun wirst! Instinktiv spähst du, um die Quelle des Rufes auszumachen. Nach kurzem Suchen entdeckst du zwei spielende Kinder und bist nicht länger alarmiert. Lächelnd betrachtest du den laienhaften Schwertkampf, wissend, um wie vieles besser du selbst in diesen jungen Jahren schon warst. Warum aber sollten nicht auch diese einfachen Jungen träumen dürfen? Träumen, von einem anderen, einem besseren Leben.