Gewalttätigkeit

Aus Scriptorium

Der typische mittelalterliche Mensch war nicht das, was man heute als sonderlich nett empfinden würde. Wie in allem gab es natürlich Ausnahmen – friedliche Leute, die keiner Fliege ein Leid zufügen konnten, gab es immer. Doch Leute konnten für heutige Verhältnisse erstaunlich grausam zueinander sein.

Bestrafungen

Die Bestrafungen, die das Recht des Königreichs Jerusalem vorsah, beinhalteten alleine in niedergeschriebener Form Verbrennungen, Kastrierungen und Verstümmelungen – und dazu kam eine enorme Menge an nicht niedergeschriebene Bestrafungen, welche weltliche Gerichte mehr oder minder nach Gutdünken verteilen konnten, zum Beispiel Hängen, Schleifen, Rädern, Entleiben, und Vierteilen. Je größer das Verbrechen, desto grausamer die Strafe – und bei jeder Bestrafung bildete sich rund um das Opfer eine schaulustige Menge, die bei der Exekution johlte. Öffentliche Bestrafungen galten als öffentliche Belustigung, und waren daher für den Bestraften umso demütigender.

Häusliche Gewalt

Häusliche Gewalt – also Gewalt, die innerhalb des Haushaltes ausgeübt wurde – war im Mittelalter etwas total normales, und es gab viele brutale Familienväter. Dies ergab einen Teufelskreis, welcher sich durch das Mittelalter hinweg durchzog.

Die allgemeine Ansicht war: „Wer die Rute spart, verzieht das Kind.“ Die Ansicht der mittelalterlichen Gesellschaft war, dass man nur mit Gewalt Kindern den Respekt vorm Gesetz und den Eltern beibringen konnte. Dasselbe galt auch für Tiere, Ehefrauen und Diener – all jene Gruppen wurden oft gnadenloser Gewalt unterzogen. Kinder lernten daraus, aber oft genau das Falsche – und zwar, dass Gewalt absolut normal, notwendig und akzeptabel war. Zeitweilig mochten solche Schläge einem Kind zwar Respekt vor dem Vater eingeflößt haben, aber ein solches Verhalten erzeugte wiederum auch nur eine weitere Generation von Männern, für die häusliche Gewalt absolut in Ordnung war, und Frauen, denen indoktriniert war, häusliche Gewalt als gottgegeben hinzunehmen.

Dabei ist anzumerken, dass die meisten Männer, die häusliche Gewalt betrieben, dies nicht aus Sadismus taten, sondern ausschließlich, weil sie, schon alleine von ihrer Erziehung her, glaubten, dass dies der einzige Weg war, sicherzustellen, dass ihre Kinder nicht vom Galgen baumeln würden.

Dies galt nicht pauschal – es gab nachsichtige Väter, die nur selten oder, in absolut seltensten Fällen, nie ihre Kinder schlugen, und ihren Gattinnen gegenüber von Brutalität absahen. Jene mussten es aber hinnehmen, von Leuten, die die Gewalttätigkeit ihrer Zeit mehr verinnerlicht haben, verspottet und als nachlässige Väter angesehen zu werden.

Gewalt außerhalb der Familie

Eine Generation, von der ein großer Prozentsatz Gewalt als natürlich und sogar wünschenswert ansah, tendierte eh wie je dazu, zu einem gewalttätigen Menschenschlag heranzuwachsen – auch gegenüber Menschen außerhalb des Haushaltes. Mord und Verbrechen waren allgegenwärtig in einer mittelalterlichen Stadt, so auch Jerusalem. Die Umsetzung von Gesetzen war bei den Autoritäten notorisch lax, und es herrschte die Vorstellung, dass Familien, Nachbarschaften und Gemeinschaften ihre Konflikte untereinander ausmachen, klären und beaufsichtigen sollten. Nur in extremen Fällen schritt die Jerusalemer Garnison ein.

Besonders junge Männer waren für diese Art von Verbrechen anfällig – vor allem in Gruppen, betrunken, gelangweilt, und aufgewachsen mit der Ansicht, dass Gewalt ein legitimes Mittel zur Bereinigung von Meinungsverschiedenheiten oder anderen Unterschieden ist.

Wichtigkeit der Gemeinschaft

In solchen gefährlichen Verhältnissen war es wichtig, zu wissen, wer Freund und Feind war – und das wurde daran festgehalten, welcher Gemeinschaft man angehörte. Dies wiederum wurde oft festgehalten an der Stadt, in der man lebte, dem Herrn, dem man diente, und natürlich der Religion.

Wenn zwei Herren – auch geistliche Herren – gegeneinander in eine Fehde gerieten, so zogen sie ihren ganzen Haushalt und ihre Anhängerschaft damit hinein. Ebenso verhielt es sich mit bürgerlichen Familien, Königreichen und Städten.

Ins Kreuzfeuer gerieten dabei vor allem Fremde, die keine Freunde und keine Zugehörigkeiten hatten – aus diesem Grund waren Verbannungen auch so ernstzunehmende Bestrafungen. Jemand, der komplett entwurzelt und ohne Freunde, Gefolge oder Leute, die sich jenem Fremden annahmen, war, der musste sich extrem vorsehen, dass er, der Fremde, der zu keiner etablierten Gemeinschaft gehörte, nicht gleich von allen als Feind angesehen wurde. Dies war weniger extrem in Jerusalem, wo Fremde – zum Beispiel Pilger – normal waren, und als schützenswert galten; dennoch waren Neuansiedler in Jerusalem sehr gut damit beraten, sich so bald wie möglich einen Platz in der Gemeinschaft zu suchen und das eigene Ansehen und den Leumund in der Gemeinde aufzubauen.

Quelle

Ian Mortimer, "The Time Traveller's Guide to Medieval England: A Handbook"